Kurz nach Weihnachten, 2017, in einer mittelgrossen Gemeinde im nördlichen Sauerland. Namen werde ich allesamt ändern, um niemandem zu Nahe zu treten.
Abgespielt hat sich die folgende Szene ziemlich genau so, wie ich sie beschreibe. Wir fahren durch’s Sauerland, wollen noch schnell in einer Blumenhandlung eine Amaryllis und einen schönen Geburtstagsstrauss kaufen. In einem besonders langen Dorf, das wegen seiner Länge auch gleich in zwei Teile mit verschiedenen Namen geteilt ist, finden wir eine passende Blumenhandlung. Ich betrete den Laden und treffe auf eine Frau in ihren Siebzigern, graue Haare, Kurzhaarschnitt, mit einer blauen Strickjacke bekleidet, und mit einem Topf Alpenveilchen in der einen Hand, an Blumen mit der anderen Hand herumzupfend. Sie begrüsst mich mit einem fröhlichen
„Hallo!“
Kennen wir uns?
An dieser Stelle muss ich wohl erklären, dass ein freundliches „Hallo“ früher , als ich noch in Warstein oder Münster gewohnt habe, eine ganz normale und legitime Begrüssung war. Bei uns in der Schweiz ist ein „Hallo“ aber eher Menschen vorbehalten, mit denen man schon mal intim war (jedenfalls fast). Ich habe mich so daran gewöhnt, dass ein „Hallo“ mir jetzt zu vertraut und forsch vorkommt, wenn es von Fremden kommt. Sinngemäss gilt das auch für „Tschüss“, das man bei uns wohl nicht an der Ladentheke benutzen würde.
Da die Dame mit ihrer Strickjacke nicht so aussieht, als sei sie eben noch bei 1° durch den Nieselregen gelaufen, halte ich sie für meine Fachberaterin, die mir sicher gleich einen schönen Strauss binden wird.
„Herr Bigge telefoniert noch.“
Aha. Wer ist Herr Bigge und warum fragt sie mich nicht, was ich möchte?
Aus dem Nachbarraum höre ich eine Männerstimme. „Ich weiss, dass du mein Couseng bist. Ja is ja schon gut, weiss ich ja jetzt. Du bist mein Couseng. Weisste, ich hatte die falsche Nummer. Ich wollte dich nicht anrufen, du bist ja mein Couseng. Warum soll ich dich auch anrufen?“ Nach einer Weile ist das Gespräch zu Ende und die Männerstimme kommt um die Ecke und gehört zu einem höchstens vierzigjährigem Mann mit grüner Schürze und vermutlich grünen Fingern. Das wird dann wohl der Herr Bigge sein.
„Hallo!“
Kennen wir uns?
„Ich bin gleich bei Ihnen“. Er wendet sich der Dame zu.
„Das Veilchen soll’s sein? Noch was dazu?“
„Ja, ich nehm noch eine von den Orchideen da“ sagt die Dame und zeigt auf einen Tisch, auf dem 20 Töpfe mit weissen Orchideen eine handbreit tief im Wasser stehen. Der Gärtner nimmt einen Topf hoch und bugsiert sie Richtung Verkaufstheke. Das Wasser tropft aus dem Topf, auf den Boden und dann auf die Theke.
„Aber nicht sofort giessen, die Orchidee“ rät er. Hätte man drauf kommen können. „Wie soll ich sie denn einpacken? Soll’s ein Geschenk sein?“
„Ja, aber die muss nicht extra eingepackt werden. Ich muss nur kurz über die Strasse und dann gebe ich sie schon ab.“ Das erklärt die wenig Nieselregen-geeignete Kleidung.
„Ja, und dann sehen die Gäste das und fragen sich, „wie hat der Bigge die denn wieder einpackt?“ Ich mach Ihnen mal Folie drum und ein Schleifchen dran.“
Während dessen fällt mein Auge auf ein A3 grosses Schild, auf dem in 5 cm hohen Buchstaben gedruckt steht:
Wenn Sie mit Karte bezahlen wollen, melden Sie das vor dem Bezahlen.
Wann denn sonst, denke ich. Hinterher macht ja nicht so viel Sinn. Aber OK, guter Hinweis.
Die Dame bezahlt und geht.
„Hallo. Was soll’s denn sein?“
„Bei Ihnen kann ich mit Karte bezahlen, sehe ich?“
„Ja, kein Problem.“
„Prima. Ich frage, weil ich fast keine Euro dabei habe.“
„Sie sind nicht von hier?“
Ich erzähle ihm, dass ich seit 15 Jahren in der Schweiz wohne, aber gebürtig aus Warstein bin.
Er antwortet mit „Darf ich mal eben meine Angestellte anrufen?“.
„Natürlich, gern, ich hab’s nicht eilig.“
Er greift zum Telefon, drückt ein paar Tasten, und dann geht’s los:
„Hömma, du bist mit vielleicht Eine. Hab mich bis auf die Knochen blamiert. Du solltest mir die Nummer von dem Theo XXX geben. Aber du hast mir die Nummer von dem Theo YYY gegeben. Der ist doch mein Couseng. Ich ruf den an, und frag den, ob er mir den Fernseher anschliessen kann. Klar, sacht der, sicher kann ich dir dein Fernseher anschliessen, aber ich bin doch dein Couseng. Normalerweise verkauf ich dir Heizungen und schliess die an. Ich hab mich so blamiert. Du bist mir vielleicht eine! Wie steh ich denn jetzt da? Ruf meinen Couseng an und frach den.“ Er nimmt einen Stift in die Hand und streicht eine Telefonnummer aus einem grossen Notizbuch, das auf der Theke liegt. „Und dann rufste mich nochmal an, wennde die richtige Nummer rausgesucht hast, woll? Jau, tschüss, bis gleich, tschüss.“
„Was kann ich Ihnen denn geben?“
„Ich hätte gern eine Amaryllis und einen Geburtstagsstrauss. Nicht zu gross und wuchtig.“
„Wie teuer darf der Strauss denn sein?“
Ein Mann in den Sechzigern betritt den Laden, nur im Hemd. Herr Bigge fragt ihn, „du, kann ich dir die Blumen schon um halb 11 bringen morgen? Ich muss sonst vier mal fahren. Hab dann nachher noch andere Kunden.“
„Ja klar.“ sagt der Mann, geht in einen Nachbarraum, schreibt etwas auf, wurstelt rum. Kennt sich scheint’s gut aus. „Manchmal mein ich, die sprechen sich ab. Vier Stück hab ich morgen.“ Beerdigungen, vermute ich. Glaub nicht, dass die sich absprechen, aber nun, was weiss ich.
„Sie müssen mir sagen, wie teuer der Strauss sein soll.“
„Ich kenne die Preise hier nicht so, hab ja gesagt, ich bin aus der Schweiz.“
„Hömma, kannste dich freuen, da kannste dem n Strauss für 120 Euro verticken“ rät der Bestatter.
Ich lache und sage, „naja das vielleicht nicht. Einfach einen schönen Strauss, nicht zu gross.“
„Soll der 5 Euro kosten?“
„Ich glaube nicht, dass ich für 5 Euro schon einen schönen Strauss kriege.“
„Jetzt kommse mal mit, dann suchen wir was zusammen. Aber Sie müssen mir schon sagen, was der kosten soll. Sonst fange ich ja dreimal von vorne an mit dem Zusammensuchen. Darf der 20 Euro kosten? Sonst muss ich dreimal von vorne anfangen, wenn se mir das nicht sagen.“
„Ja der darf auch 20 Euro kosten. Halt schön und nicht zu wuchtig.“
Er sucht ein paar Blumen aus, Gerbera, farblich passende Rosen, Schleierkraut, Seidenkiefer-Grün dazu. „Sehnse, wenn Ihnen das jetzt zu teuer oder zu wenig wäre, dann fang ich von vorne wieder an“. Sieht ganz OK aus, also bloss nicht weiter diskutieren und den Mann seine Arbeit machen lassen, denk ich.
Er verpackt den Strauss und auch die Amaryllis, genau gleich wie zuvor schon die Orchidee. Oben ein Zipfel in die Folie gedreht, unten auch, beide mit Schleifenband verbunden, Schleifenband etwas verdrillt, fertig. Wie packt der Bigge das denn wieder ein, denke ich.
„Macht 28 Euro.“
„Mit Karte, bitte.“
„Dann gehse doch schomma an den Kartenleser.“
„Wo ist der denn“ frage ich.
„Na, der steht doch auf der alten Theke!“ Anscheinend weiss jeder Kunde, dass der Kartenleser auf der alten Theke steht, und vor allem auch, wo die alte Theke sich befindet. Ich leider nicht.
„Wo ist denn die alte Theke?“ frage ich unsicher.
„Dann kommse mal mit.“ Wir gehen in einen Nebenraum. Der Kartenleser ist – gottseidank – einer mit Chip-Leser.
Mit unseren Schweizer Maestro-Karten haben wir früher bei jedem zweiten Kartenleser in Deutschland (und NUR in Deutschland!) Probleme gehabt. Nach 4 PIN Ziffern wurde die Eingabe abgebrochen. International übliche 6-stellige PINs sind in Deutschland ungebräuchlich, neumodisches Hexenzeug. Selbst an einer Autobahnraststätte hat man mir mal erklärt, man akzeptiere keine „ausländischen“ Karten. Wozu auch, auf Autobahnen sind ja auch keine Leute aus anderen Ländern unterwegs… Aber wie gesagt, diese neuen Chip-lesenden Terminals haben noch nie Stress gemacht.
Ich schiebe meine Karte rein. Das Display zeigt „Bitte Magnetstreifenleser benutzen“. Ich ahne Böses. Ich ziehe die Karte durch den Magnetstreifenleser. Keine Reaktion. Ich drehe die Karte von Streifen aussen nach Streifen innen. Keine Reaktion.
„Sie müssen die Karte nochmal drehen.“
Ich drehe die Karte auf Magnetstreifen rechts in der Luft, keine Reaktion, und der Vollständigkeit halber nochmal Magnetstreifen in der Luft nach links. Fällt mir als Physiker nicht leicht, dieser Unsinn, aber wie gesagt, besser nicht diskutieren.
„Was hammse denn da fürne Karte?“
Ich zeige ihm meine Maestro-Karte. Eine international anerkannte Debit-Karte, von der bereits 2009 fast 600 Millionen Exemplare in Verwendung waren und die mittlerweile sogar in Deutschland überall funktioniert. Fast überall.
„Habbich noch nie gesehen.“ sagt Herr Bigge. Ich erkläre ihm, dass die „überall“ akzeptiert wird, und frage, ob er Kreditkarten akzeptiert.
„Ne. Sie brauchen eine Bankkarte. Hammse denn keine Bankkarte?“ Was zum Teufel ist eine Bankkarte, wenn meine Maestro keine ist?
„Bankkarte?“ frage ich kleinlaut.
„Na von der Bank. Von der Sparkasse. Hammse denn kein Konto bei der Sparkasse?“ Ja sicher, denke ich, alle Schweizer haben ein Konto bei der Dorf-Sparkasse V.-B. – Spassvogel.
„Dann schau ich mal, ob ich noch genug Bargeld hab, sonst haben wir ein Problem“ sage ich.
„ICH hab jetzt ein Problem.“ sagt Herr Bigge. „Jetzt stimmt meine ganze Buchhaltung nicht. Wie krieg ich denn jetzt meine Kasse in Ordnung?“
Ich finde 30 Euro in meinem Euro-Portemonnaie und geb ihm die 30 Euro und sage „Problem gelöst, Glück gehabt.“
„Gar nichts ist gelöst, jetzt hab ICH ein Problem, meine Kasse stimmt doch jetzt nicht, meine ganze Buchhaltung ist durcheinander. Wie krieg ich denn jetzt meine Kasse wieder auf die Reihe? Ich hab jetzt ein Riesenproblem.“
Ich schwanke zwischen weiter diskutieren und verschwinden. Ich wünsche ihm einen guten Abend und einen guten Rutsch, schnappe meine Blumen und gehe.
Danach, schon draussen, viel mir ein, was ich hätte machen sollen: Rufense doch ihre Angestellte an, die weiss bestimmt, wie das geht hätte ich ihm raten sollen.
So sind se …